Venedig ist wieder offen
In Zeiten bloß gelockerter Coronamaßnahmen sollte es ja eigentlich nicht so voll sein in und vor der Hütte… Anders aber in Canareggio, dem einheimischen Ausgehviertel von Venedig, an der Fondamente della Misericordia: samstag abends das blühende Leben, dichtes Gedränge auf einer Länge von gut eineinhalb Kilometern. vor den Lokalen alle Tische zum Bersten voll besetzt, Trauben von jungen Leuten stehen rum mit ihren Getränken in der Hand oder sitzen auf dem Boden… Abstand? Ja schon, aber nicht viel. In Italien reichen ja ein paar Zentimeter, also grad so viel, dass es einem nicht als plumper Annäherungsversuch ausgelegt würde. Maske? Im Prinzip schon, an der Theke beim Anstellen, falls der Wirt drauf besteht… Im Laufe des Abends schwindet aber auch hier die Disziplin.
Man verstehe den genussfaktor nicht falsch: ich beklag‘ mich nicht, vielmehr finde ich die Rückkehr zur alten Normalität längst angebracht. Aber das wäre eine andere Diskussion und hat hier nichts verloren, jedenfalls nicht in voller Breite.
Wir sind also, kaum dass unser etwas dussliger Innenminister uns wieder raus gelassen hat, nach Italien gefahren – Venedig sehen ohne Touristen, Kanäle mit angeblich sauberem Wasser… Das muss man sich anschauen, das kommt – soll man jetzt sagen: hoffentlich? – so nie wieder. Einerseits möge der Lockdown-Blödsinn uns künftig erspart bleiben, andererseits hat ein Downsizing gerade an touristischen Hot Spots wie Venedig absolut Charme. Man stelle sich vor: keine schwimmenden Gemeindebauten in der Lagune! Keine Kreuzfahrerhorden, die die Gassen verstopfen! Eine schöne Welt. Aber diese Welt wird sowieso ihren Gang nehmen, wie sie nun mal will…
Empfang bei Freunden
Und dann im Al Timon… Trotz dichtem Gedränge werden wir alsgleich erkannt – wir kommen jedes Jahr zu Weihnachten her und das seit nunmehr sieben Jahren… Letzten Winter waren wir gleich nach dem Hochwasser unter den wenigen nicht-einheimischen Gästen. Das Lokal stand kurz vorher noch bis zu einem Meter tief unter Wasser – und Timon berichtete mit fatalistischem Stolz, er habe nach nur drei Tagen schon wieder aufgemacht. Die einzigen Probleme: wo kriegt man einen Elektriker her – das hat sich lösen lassen, sonst kein Aufsperren – und einen Installateur – das blieb tagelang bestehen: kein Damenklo. Timon, der eingefleischte Venezianer, schimpft über venezianische Handwerker… eine Szene, die sich allerdings überall auf diesem Globus vorstellen lässt.
Und jetzt im Nach-Corona-Sommer: es ist Samstag, tausende Italiener haben sich aufgemacht, um in Venedig zu feiern. Hier an der Fondamente della Misericordia sind es fast ausschließlich junge Menschen, wir vier ältere Semester heben den Altersschnitt beträchtlich. Im Vorbeigehen erblickt Timon uns, nimmt die Maske aus dem Gesicht und lächelt breit: Willkommen zurück! Einen Tisch? Und innerhalb von zehn Minuten sitzen wir.
Am Nebentisch vier Italiener. Nachdem wir unüberhörbar nicht von hier sind, werden wir auch von denen willkommen geheißen. Austria? Welcome back! Italien hat bei weitem nicht so ein überbordendes Unterstützungssystem wie bei uns, die Menschen warten schon auf Arbeit – und die kommt in Gestalt der Reisenden. Marina stammt aus Neapel, arbeitet im Sommer meistens in Venedig. Hoffentlich bald wieder… Dann plaudern wir über den Süden, Neapel, die Amalfi-Küste…
We are a Meat-Place
Wir wissen das längst: bei einer unserer ersten Reservierungsversuche, viele Jahr ist das her, hat uns der Chef noch zur Sicherheit erklärt: we are a Meat-Place, no Fish! wussten wir, wissen wir heute, und unsere Freunde, mit denen wir uns in Venedig getroffen haben, sind gleichfalls begeistert von den Platten, die man an uns vorbei trägt…
Man muss, irgendwo auf der Welt, erst mal ein Lokal finden, in dem es Chateaubriand di cavallo gibt: Filetstück vom Pferd! Da lohnt sich jeder Umweg!
Wir schaffen es nie, im Al Timon etwas anderes zu bestellen. Und natürlich ist bei der Menge auch nicht drin, vorher oder nachher von den Primi oder Dolci zu kosten… Drum sei dieser Tag gespriesen, wir sind endlich zu viert und können neben dem herrlichen Fleischberg auch Vorspeisen und vor allem Nachspeisen bringen lassen – mit der realen Chance, sie auch aufzuessen… Natürlich hat der genussfaktor hier gepatzt: es gibt keine Fotos von den Primi. Einerseits Gnocchetti di patate con pomodoro e ricotta affumicata – also flaumige Erdäpfelgnocchi mit Paradeis und Räucherkäs – und andererseits Gnocchetti di patate con rapa rossa e gorgonzola – ein sündhaft geniales Gericht! Das Püree von den roten Rüben ist ganz und gar nicht erdig, geht eher ins Süße. Und dazu ein kräftiger, cremiger Schimmelkäse. Das muss ich selber mal nachkochen!
Der genussfaktor entschuldigt sich wegen der fehlenden Fotos: mein Leben besteht eher in Kochen und Essen als im Influencen. Es ist mir zugegebenermaßen noch immer nicht ganz unpeinlich, im Lokal angesichts der Teller und Platten als allererstes die Kamera zu zücken… Da es den genussfaktor aber nun schon recht lange gibt, hatte es auch Zeiten, in denen das noch arg exotisch war. Heute ist das ja schon das nicht mehr ganz neue Normal. Und: die in den Handies verbauten Kameras erlauben es, aus dem Sitzen zu fotografieren. Früher mit der Kompaktkamera musste man meistens auch noch aufstehen, um überhaupt etwas scharf abgebildet zu kriegen – peinlich, peinlich. Das waren sozusagen noch die Heldentage der Foodbloggerei. Wie der Lateiner in mir so sagt: tempora mutantur.
Dafür die Dolci: zuerst mal das wunderbar fluffige Tiramisu della casa…
Dann ein Semifreddo con more di mozzarbetto (Brombeeren von der Insel Mozzarbetto hier in der Lagune).
Und die Torta ricotta e cioccolato con lamponi!
Und für den Herrn genussfaktor selber ein kleiner Ron e Cioccolato… e basta!
Nach Mitternacht tut sich noch immer reichlich was vor den Lokalen auf der Fondamente della Misericordia.
Überhaupt in ganz Venedig, wie wir feststellen können auf dem wohltuenden Fußmarsch durch die laue Sommernacht bis hinüber zum Rialto, wo wir wieder mal abgestiegen sind.
2 Gedanken zu “Al Timon in Venedig”