Von wegen! Tallinn, die Hauptstadt Estlands, ist ein Mittelalter-Disneyland für täglich tausende Kreuzfahrt-Touristen – zumindest auf den ersten Blick. Zahllose Studentinnen und Studenten albern in mittelalterlichen Kostümen herum, verkaufen vermeintliches Handwerk und Delikatessen, bequatschen einen zum Besuch des oder jenen Lokals. Das alles nervt mich für gewöhnlich, da werde ich geradezu renitent.
Aber der Wirbel lässt merklich nach, sobald die Tagestouristen wieder in ihre schwimmenden Gemeindebauten zurück gekehrt sind. Mit Anbruch der Dämmerung ist der Spuk vorbei, die Stadt atmet durch, die Keiler verschwinden, und Tallinn zeigt, dass es auch ernsthaften Charme hat.
Dann hat man auch Ruhe, sich ein Wenig umzusehen und eine kulinarische Wahl zu treffen.
Ich bin kein großer Freund der deutschen Küche – auch dessen, was in Österreich zu nah daran ist – und daher hab ich so meine Probleme, wenn eine Nationalküche sich an diesen Genussraum allzu eng anschließt: die estnische Küche behauptet dies von sich, und auch Einflüsse der polnischen und gar der finnischen Tradition erwärmen mein Herz nicht wirklich.
Das Kaerajaan (Homepage in Englisch) ist der seltene Glücksfall, dass mitten in dem kulinarischen Mittelalter im Zentrum Tallinns einer auf radikale Modernisierung setzt: das traditionelle Kama-Mehl wird zu Palatschinken mit Lachskaviar verarbeitet, aus Ziegenkäse wird ein herrliches Soufflée mit Beeren zubereitet, die unvermeidlichen baltischen Heringe machen sich sehr gut in einem ganz und gar unbodenständigen Salat. Auch die deftigen Stücke vom Rind, wild- oder Hausschwein erfahren hier eine radikal modernisierte Neudefinition – mit Eierschwammerl-Erdäpfelpürree, mit Gratins von Pilzen und Erdäpfeln oder Artischocken und Ziegenkäse. Nicht billig, aber überaus schmackhaft und bisweilen an der Grenze zum Genialischen. Gar kein Vergleich mit dem, was nebenan den Touristen kredenzt wird.
Deutliche Spuren in der kulinarischen Stadtlandschaft hinterlassen natürlich auch die Italiener, allein es gibt viel Pizza, wenig vertrauenswürdige Pasta und dergleichen mehr. Gute Italiener sind wie überall auf der Welt Mangelware. Das Controvento (internationale Homepage) liegt im malerischen Katharinengang:
Die Küche ist exzellent, mein Risotto mit Eierschwammerln ließ wahrhaftig keine Wünsche offen, auch den Meeresfrüchten ist hier dank der Nähe zum baltischen Gewässer durchaus zu vertrauen.
Falls es dann mal günstiger hergeben sollte, aber doch kein Fast Food:
das Spice (Homepage) bietet scharfe indische und etwas mildere thailändische Currys in großen Portionen zu sehr vernünftigen Preisen; daneben gibt es natürlich auch italienisch angehauchte Nudel-, Fleisch- und Fischgerichte sowie undefinierbar Internationales. Gekostet habe ich aber nur ein South Indian Chicken Curry und ein Pork Vindaloo, weil die Küche von echten Indern geführt wird. Und es hat sich wahrhaft ausgezahlt!
Zum Nachtisch bieten etliche Konditoreien neben Torten und Kuchen auch Pralinen an: Mehlspeisen gibt es überall gute, Chocolaterie Pierre und das Kehrwieder verfolgen aber einen eher traditionellen und im internationalen Vergleich unterentwickelten Ansatz bei ihren Pralinen: sie sind recht groß, mit wenig Pfiff gefüllt und mehr hausbacken als liebevoll handgefertigt.
Einzig Anneli Viik präsentiert Pralinen auf internationalem Stand: sie heissen allesamt nach Opern, schmecken hervorragend und zeugen von kunstfertige Materialbehandlung und Sinn für Geschmackskompositionen. Da dürfen sie dann auch was kosten.
Zum Absacken kann man natürlich ins Dachgeschoss des Radisson Blu Hotels fahren: der Blick über Stadt, Hafen und hinaus wo man an Tagen mit klarer Sicht angeblich sogar den gar nicht so weit entfernten Fernsehturm von Helsinki sehen kann, entschädigt für die satt schnöselige Atmosphäre.
Echt estonisches Versumpfen gibts dann noch im Hell Hunt, das sich hunderte von Biersorten zu führen rühmt. Jedenfalls besteht ausreichend Auswahl für jeden erdenklichen Geschmack, auch die Öffnungszeiten sind im Lokal, dessen Name Höllenhund bedeuten soll, offenbar sehr durch Kundenwunsch bestimmt. Man zeigt ein wirtshausschild aus barocken Tagen, das sich angeblich eingemauert über die russische und deutsche Besetzung sowie die Jahrzehnte der Sowjetherrschaft erhalten habe.